Orchid

Von Frank Appel

Pflanzen? Nur keine Pflanzen in meiner kleinen Wohnung, die ich nach fünfundzwanzig Jahren Familienleben nun erstmals wieder ganz für mich hatte. Außerdem wollte ich meine Freiheit genießen und ganz spontan, wann immer ich frei hatte, ein Wochenende oder auch länger abhauen, ohne die Pflanzenversorgung erst noch regeln zu müssen. Könnte ja auch sein, dass ich unterwegs erst die Entscheidung treffe, die nächsten Tage in einem Bett zu verbringen, das nicht mein eigenes war. Wie auch immer: keine Pflanzen.

Na ja, um ehrlich zu sein, nicht so ganz, denn eine Pflanze hatte ich schon, wenn man das Pflanze nennen konnte. Einen Kaktus, der sich seit 6 Jahren in meinem Besitz befand und der in einem viel zu kleinen Plastiktopf stand, dem, welcher ihn schon kleidete, als er mir als Geschenk von der politischen Konkurrenz überreicht wurde. Gewachsen war er. Für mich völlig unverständlich, da ich ihn oft Wochen lang nicht goss. Überdimensioniert war er für den Plastiktopf und schief und musste daher auf dem Fensterbrett immer angelehnt ans Fenster stehen, damit der dicke Leib mit seinem Übergewicht nicht den Topf zum Fallen brachte.

Gut, dass ich außer meinem dicken, ungeliebten, aber sentimental betrachteten Kaktus keine Pflanzen hatte. Lebte ich doch in der folgenden Zeit, wie mir der Sinn war. Keine Rücksicht, keine Vorausplanung, der Inbegriff von Freiheit ohne Pflanzen.

Dann jener denkwürdige Tag, an dem eine mir nahe stehende Person mir eine Grünpflanze verehrte. Frauen sehen das irgendwie anders – eine Wohnung, egal, ob sie sie selbst bewohnen oder nur ab und an beschlafen, brauche Grün. Und immerhin sei es eine Pflanze, die quasi keine Pflege brauche. Solange sie genug Licht bekomme, aber keine pralle Sonne, und wenn schon im Süden, dann doch eher geschützt stand. Und sie müsse auch nur alle zwei Tage mit etwas im Wasser aufgelöstem Dünger besprüht werden. Ansonsten könne ich sie ruhig vernachlässigen. „So, wie die Schenkende auch“, dachte ich mir?

Selbstverständlich bekam der grüne Wusch einen Ehrenplatz gleich neben meinem Kaktus und übernahm seltsamer Weise, nachdem er jene Person überdauert hatte, im Laufe der Zeit auch dessen Genügsamkeit. Jedenfalls was seine Zähigkeit anging, denn nachdem ich ihn zweimal nach wochenlanger Abwesenheit im völlig verdorrten Zustand antraf und, statt ihm ein wohlverdientes Düngerabendessen zu servieren, ihn erst mal für ein paar Stunden unter die Dusche schickte, dankte er mir diese Behandlung jedes Mal mit dem frischesten Grün, das eine Pflanze hervorbringen konnte. Sollte ich also doch einen grünen Daumen haben?

Früher, als ich noch so ganz in der Versorgungsverantwortung für meine vielköpfige Familie mit all ihren Tieren und dem Garten stand, mochte ich gerne exotische Pflanzen. Orchideen zum Beispiel. Doch die wenigen, die es während dieser Zeit in meinem Umkreis gab, waren meist nach der ersten oder spätestens zweiten Blüteperiode von sechs bis acht Wochen so beleidigt gewesen, ob der mangelnden Fachkenntnis im Umgang mit ihnen, dass sie es vorzogen, in den Orchideenhimmel umzusiedeln.

Doch nun, wo ich mich ja als begnadeter Pflanzenpfleger herausgestellt hatte, könnte ich nicht vielleicht doch ... immerhin, sowohl der Kaktus als auch der immer wieder neu geborene Grünwusch hatten mir ja meine Fähigkeiten bescheinigt. Ja, ich war überzeugt, die Pflanzenwelt durchschaut zu haben. Ähnlich wie menschliche Lebensweisen auch, konnten sie sowohl unter under- als auch unter overprotection leiden. Und der Maßstab schien hier wohl ein Dekadenrhythmus zu sein, was hieß, dass drei mal gießen pro Monat das ungefähre Maß der Dinge war. Nun, das konnte ich auch bei meinem Lebenswandel bestimmt sicherstellen.

Dann, eines Tages war es soweit. Eine Orchidee fand den Weg in meine Wohnung. Voller Blütenpracht, und ihre langen, wie Fangarme aussehenden Luftwurzeln ragten gespenstisch um sie herum. Auf Grund dieser Tatsache musste ich sie mehrfach umstellen, denn immer, wenn ich dachte, sie habe sich nun an die Nachbarschaft gewöhnt, bohrte sich ihr Wurzelwerk wieder irgendwo hin, wo ich es nicht haben wollte.

Ich fing links vom Kaktus an. Ein paar Wochen später stand sie zwischen Kaktus und Grünwusch und bald darauf dann mit erzieherischem Abstand rechts neben dem Zweitgeborenen, der sich gerade wieder mal aus seiner an einen Winterschlaf erinnernden Vernachlässigungsphase erholte.

Ich erwartete voller Ungeduld, dass die Orchidee all ihre Blüten abwarf und mir damit signalisierte, dass sie nun vorerst genug habe und sich erholen müsse. Selbstverständlich erwartete ich von ihr, dass sie meine fachliche Autorität respektieren würde und nach einer vier- bis sechsmonatigen Ruhephase wieder zu neuer Blütenpracht ansetzen würde.

Es kam anders. Sie setzte einfach einen neuen Trieb an und begann, noch während am ersten Stängel die Blüten sich langsam verabschiedeten, an diesem neuen Knospen auszubilden. Aha, sie hatte irgendwie intuitiv gespürt, dass ich ein Pflanzenliebhaber bin. Meine Abwesenheitszeiten verstand sie offensichtlich nur als Prüfungen ihrer Treue und Hingabe. Und selbstverständlich wollte sie zeigen, dass sie sich sehr wohl erinnerte, wer ihr in eher unregelmäßigen Abständen das Wasser reichte.

Ich gewöhnte mich an sie. Wenn ich abends nach der Arbeit nach Hause kam, lächelte sie mir erfreut mit ihrer Blütenpracht zu. Und wenn ich morgens aus dem Hause eilte, ohne mich noch um sie und ihre grünen Mitbewohner kümmern zu können, war es mir, als winke sie mir zum Abschied noch einmal zu. Sie blühte unermüdlich. Sie sorgte sich um mich. Woche für Woche und Monat für Monat war es ihr Bemühen, mich zu erfreuen. Selten hatte ich eine so treue Haltung erlebt. Sie war da, wann immer ich sie brauchte. Sie erfüllte die Wohnung mit ihrer Lebenslust und Fröhlichkeit. Während ihr allererster Trieb, mit dem ich sie einst kennen gelernt hatte, verdorrte, hatte sie bereits drei weitere gebildet, so dass die Blütenpracht nahtlos von einem auf den anderen überging.

Dann stand der Umzug an. Seit eineinhalb Jahren war sie nun an meiner Seite, stand dort an jenem Platz, den sie sich in meiner Wohnung und in meinem Herzen erobert hatte. Ich wusste, was ich ihr antat, doch was sein musste, musste sein. Schließlich ging ja mein Leben vor, und wenn sie auch den Platzwechsel nicht verkraften sollte und sich nach jahrelanger Verausgabung auf diesem Wege vollständig aus meinem Leben zurückziehen würde.

Ich konnte doch nicht ihretwegen meine Lebensplanungen hintanstellen. Sie als meine treue Gefährtin würde sicher verstehen und sich gerne opfern, um mir den Weg in den neuen Lebensraum zu ermöglichen. Schließlich war sie ja erfüllt von Dankbarkeit, weil sie mich so lange lieben durfte.

Am Umzugstage selbst ging es rau zu. Die Zeit war knapp, die Helfer überfordert, da ich meine Sachen noch in die Plastiktüten zu verpacken suchte, als der Leihbus schon vor dem Hause stand. „Die Pflanzen zuletzt“, sagte ich noch, während ich mir die Stachel des Kaktus aus dem Daumen zog. Ich klemmte mir den Grünwusch unter den Arm und versuchte, Orchidee und Kaktus gleichzeitig anzuheben, um sie in den Schuhkarton zu platzieren, der schon meine Steinsammlung und die anderen Utensilien enthielt, die in der Nähe der Fensterbank so herumstanden. Selbstverständlich verlangte der Kaktus dabei besonderen Respekt und forderte eindringlich die größere Bewegungsfreiheit.

Eine neue Wohnung, ein Neubeginn, warum nicht dann auch eine neue Orchidee, falls es die alte nicht überleben sollte. Spätestens an dem Fenster in der neuen Wohnung, das so ganz andere Lichtverhältnisse hatte, würde sie aufgeben. Schließlich sind Orchideen ja was besonderes und brauchen die herzliche Zuwendung eines zuverlässigen Partners. Der war ich nicht. Auch, wenn sie mir so treu zur Seite gestanden hatte, all die Monate, ich war ihr nicht im gleichen Maße zugewandt gewesen. Nun gut, ich war bereit sie hinzugeben, sie, nachdem sie ihre letzen Blüten abgeworfen und sich dann ob ihrer verausgabenden Lebensweise zu Tode erschöpft verabschiedet hätte, zu Grabe bzw. zur Komposttonne zu tragen.

Ihre letzten vier Blüten hatte sie mitgebracht ins neue Heim, dort stand sie eng in eine Ecke gepresst, denn sie musste den wenigen Platz mit dem Kaktus und dem Grünwusch teilen, der, trotzdem er beim Umzug kopfüber aus seiner Kiste gefallen war, sich am neuen Platz behauptete. Die nächsten Tage und Wochen schaute ich immer mal wieder verstohlen zu ihr, der treuen Seele, hin. Wann würde sie die letzte Blüte abgeworfen haben? Und was machte dieser kleine grüne Spitz da an ihrer Seite? Er sah ja fast so aus, wie die neuen Triebe, die sie immer wieder entwickelt hatte. Sollte sie? ..... wäre ich tatsächlich ein Magier der Botanik?

Die Zeit verrann. Mittlerweile hatte sie längst entschieden, sich nicht den üblichen Verhaltensweisen anzupassen und mir ihre Treue zu halten. Sie stand und steht nach wie vor in Blüte, als hätte sie ein Abkommen mit der Zukunft, nicht aufzuhören mit der Darbringung neuer Blüten bis ans Ende der Welt...

Mit dieser Erfahrung im Kopf und angerührt von der nicht enden wollenden Treue meiner Orchidee war ich dann eines Tages einkaufen. Bei einem Discounter in der Nähe. In der Nähe der Kasse standen die drei kläglichen Reste einer Verkaufsaktion. Orchideen für schlappe sechs Euro. Also keine Winzlinge, sondern zwanzig Zentimeter hohe Geschöpfe mit mehreren Trieben und einigen Blüten. „Massenware“ – ging mir durch den Kopf. Nie würde eine davon charakterlich an die Meine herankommen. Auch, wenn die eine der Drei außergewöhnliche Farben zeigte. Nein – ich wollte die Treue meiner Orchidee dadurch belohnen, dass ich diese billigen Discountblumen nicht weiter beachtete.

Schön war sie ja – und groß – und gesund sah sie auch aus. Aber selbst wenn ich sie mitnehmen würde, wäre ich ja sicher, dass sie den Wechsel in meine Wohnung und die engen Verhältnisse dort mit Kahlschlag quittieren würde. Also – wandte ich meine Gedanken zu meiner Getreuen zu Hause und stand weiter an. Ich nahm die Schönheit von den Dreien mal in die Hand, betrachtete sie von allen Seiten. „Nicht schlecht“, war mein professionelles Urteil als Orchideenliebhaber, und damit stand sie auch schon wieder neben ihren beiden Gefährtinnen. Die nächste Kundin war fertig, und die Schlange rückte um einen Einkaufswagen weiter.

Was dann geschah, kann ich mir nicht erklären. Bevor ich außer Reichweite von dem Blumenstand an der Kasse war, griff ich zu, und die Schöne stand auf dem Band. Die Schlange löste sich innerhalb von Sekunden vor mir auf. Ich kam dran, schneller als ich noch nachdenken konnte, zahlte, war draußen, zu Hause. Ja – ich brachte die Schöne mit zu meiner Treuen nach Hause. Meine Fensterbank musste nun noch einmal umorganisiert werden. Na ja, wenn ich hier noch ein wenig schob und dort ein wenig rückte und jeder meiner Pflanzen ein wenig des Platzes nahm, könnte die Neue doch noch dazwischen stehen.

Und nun steht sie da. Sie und die Meine, die Treue, die Ewige, und sie beide stehen in Blüte, lächeln sich zaghaft an. Ob sie sich des Nachts, wenn ich es nicht sehen kann, heimlich mit den Luftwurzeln berühren? Ob sie, wenn ich außer Hörweite bin, sich über mich unterhalten? Ihre Erfahrungen austauschen? Wird die MeineEine ihrer neuen Mitbewohnerin erzählen von ihren Gefühlen zu mir und von meiner oft etwas ruppigen Art? Wird sie die Schönheit der Blüten ebenso bewundern wie ich, oder wird sie sich vergleichen mit ihr, um festzustellen, dass sie keine so ungewöhnliche Farbe trägt?

Werden die beiden miteinander auskommen, und werden sie es hinkriegen, mich beide zu erfreuen? Und werde ich es schaffen, beiden ihren Raum in meinem Haus und in meinem Herzen zu erhalten? Wird es der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein? Mein Herz ist voller zarter Empfindungen für die Beiden. Sie sind nicht gleich – auch nicht gleichwertig. Sie sind anders, jede mit ihrer eigenen Geschichte, einer kurzen und einer langen. Jede mit ihrer besonderen Art, mit mir zu kommunizieren. Jede mit ihrer Eigenständigkeit, ihrer eigenen Art sich darzustellen.

Wenn jemand mich besucht, kommt er an dem Fenster vorbei, bevor er an meine Haustür klopfen kann. Dort stehen sie – meine Pflanzen: der Kaktus, der Grünwusch und meine beiden Orchideen, und singen gemeinsam das Lied über das Leben, die Liebe, die Sehnsucht, die Treue, die Schönheit, die Demut und den Stolz, und kaum jemand wird sich diesem Zauber entziehen können.